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DIE WELTWOCHE – Zürich

9 April,1987
Monte Cristo Falls among Financial Sharks
By Wolfram Knorr, Klett-Cotta, Stuttgart

Der unschuldige Millionär

Novel, by Stephen Vizinczey

Und dann, endlich, kommen die Passagen, die jedem Abenteuerroman-Freak in aller Welt den Puls schneller schlagen und ihn triumphierenden Trãnendrang verspüren lassen: wenn Edmond Dantes, nach l5jähriger, schuldloser Kerkerhaft wieder in die feine bürgerliche Gesellschaft zurückkehrt und als unerbittlicher Rachegott den Augiasstall aus Verrat, Denunziation, Korruption und rücksichtsloser Besitzgier ausmistet.

Die Zeit vergeht, doch <<Der Graf von Monte Christo>> bleibt. Alexandre Dumas’ Roman, geschrieben 1884/85, der Klassiker aller Abenteuer-Epen um Liebe, Edelmut, Fesselung und erbarmungslose Vergeltung in pittoresken Kulissen — auf Inseln, auf dem Meer, in den feinen Bankierclubs und Adelssalons —, kein anderer Abenteuerroman hat eine so grosse und treue Gemeinde. Denn der besondere, ausserordentliche Reiz des <<Grafen>> liegt in seiner Situierung: Auf der Schwelle zur Industriegesellschaft ist der Held Dantes keine rein romantisch-feudale Figur mehr, die sich ausschliesslich durch aristokratische und geistige Überlegenheit auszeichnet, sondern der bürgerliche Typus der liberalen Gesellschaft. Seine Überlegenheit eignet er sich durch die peküniären Mittel an.

Die triumphierenden Machtgefühle, die Dumas mit seiner Identifikationsfigur Edmond Dantes dem vor allem jugendlichen Leser gibt, weichen sanfter Ironie, wenn man das Buch in einem etwas reiferen Alter wieder zur Hand nimmt. Wie, so fragt man sich schmunzelnd, hat eigentlich Dantes den wunderbaren Schatz von Monte Christo in klingende Münzen umgesetzt, ohne finanziellen Schaden zu nehmen? Wie konnte er bei diesem Prozess eines solch riesigen Vermögens eigentlich seine Anonymität wahren und sich einzig und alleine auf seine grosse Rache konzentrieren, ohne sich im einzelnen um die Finanztraktionen zu kümmern?

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Furore gemacht

1956, nach dem Ungarn-Aufstande, verliess er seine Heimat und ging nach Kanada: der gebürtige Ungar Stephen Vizinczey (sprich: Wiesinzei). Der ehemalige Georg-Lukács-Schüler versuchte sich als Drehbuchautor und Stükkeschreiber, ehe er 1966 mit seinem ersten Roman (erschienen im Selbstverlag) Furore machte. Mit seinem neuen kam der Welterfolg: „An Innocent Millionaire“, in mehreren Sprachen übersetzt, ist eine Tour de force durch die Gesetze der freien Marktwirschaft – und gleichwohl ein satter, faszinierender Abenteuerroman.

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Der <<Monte Christo>> Fan kennt natürlich auch jede Verfilmung des Stoffs und hat immer grösstes Veständnis dafür, dass gerade diese Seite det Geschichte – weil sie vermutlich die trockenste und langweiligste ist – elegant ausgespart wird. Edmond Dantes, der Steuermann, der nach längerer Seereise nach Marseille zurückkehrt, um endlich seine geliebte Mercedes heiraten zu können, hat eine insektenhaft geformie Biographie. Die Taille seines Lebenslaufs ist hauchdünn wie bei einer Wespe. Zwischen der langjährigen, demütigenden Kerkerhaft und der genüsslichen Rache gibt es nichts, bis auf die Schatzfindung.

Aber schliesslich ging es Dumas um die Demonstration, dass auch ein bürgerlicher Anonymus zu einer überragenden, aristokratischen Persönlichkeit heranwachsen kann, wenn nur Wille, Kraft und Durchsetzungsvermögen vorhanden sind. Damals, im Zeitalter der beginnenden Industrialisierung und des kühnen Fortschrittsdenkens, war das durchaus legitim. Wie aber würde es heute einem Edmond Dantes ergehen?

Ein Geistesverwandter dieser Heldenfigur ist der junge Mark Niven, gebürtiger Amerikaner und Sohn eines Schauspielers. Von Kindesbeinen an hat Mark in Hotelzimmern und billigen Pensionen gelebt, Armut, Hunger und Zwistigkeiten zwischen den Eltern kennengelernt und deshalb schnell begriffen, was es im Leben braucht, um sowohl ein glücklich-ausgeglichenes als auch selbstbestimmtes Leben führen zu können: Reichtum, Geld.

Schon mit 14 Jahren schreibt er in sein Tagebuch die beiden Satze <<Die Menschen sind nicht Brüder, sondern Fremde, und keinen interessiert die Geschichte des anderen. Keiner fragt einen Dreck danach, was der andere macht.>> Mark weiss, wovon er hier so altklug-verbittert redet. Er ist Zeuge zahlreicher Demütigungen, die seinem Vater auf der Hatz nach Engagements widerfahren, ob im Film- oder Bühnengeschäft.

Deshalb ist die Familie immer unterwegs: in Spanien, Italien, Frankreich, England. Mehr schlecht als recht kann sie sich durchs Leben quälen und leidet unter den Entbehrungen, bis sich eines Tages die Mutter vom Vater trennt und einen wohlhabenden Holländer heiratet. Die Restfamilie tingelt weiter durch Europa, immer wieder die Wohnungen und die Schulen für den Jungen wechselnd. Marks Seelenleben leidet darunter, er wird verbittert, kapselt sich ab und brennt nach innen, süchtig nach dem grossen Erfolg.

Mark Niven flüchtet in eine sentimentalische Wattewelt

Eines Tages erfährt er über die Lektüre eines Buchs vom Schicksal einer 230-Tonnen-Brigg, die im 18. Jahrhundert, über und über mit Goldschätzen beladen, vor den Bahamas gesunken ist und nie gefunden, nach der nicht einmal gesucht wurde. Für den heranwachsenden Mark wird dies zur fixen Idee: Er wird die <<Flora>> heben und durch den Verkauf der Schätze zum Millionär werden.

Seinem Vater freilich bereitet die obsessive Beschäftigung des Sohnes mit Schatzsuchereien, Tauchen und dem Studium der ausbeuterischen Kolonialgeschichte Spaniens nur Sorgen statt Freude. Er sieht Mark in puerile Träume abdriften, in eine sentimentalische Wattewelt, die ihn von einem ordentlichen akademischen Beruf immer weiter entfernt.

Doch seine Bitten, Betteleien, Schmeicheleien und sonstigen Überredungsversuche fruchten nicht: Mark will reich werden, er will die <<Flora>> heben. Und tatsächlich, während in den USA und in Europa die Studenten auf die Strassen gehen und gegen den Vietnamkrieg protestieren, die heftige Politisierung der Jugend einsetzt, gelingt Mark eine Anstellung als Dolmetscher in einem Luxusclub auf der Bahamas-Millionärsinsel Santa Catalina. Dort kauft er sich ein Boot und sucht unerbittlich das versunkene Schiff – bis er es eines Tages findet. Zwar warnte man Mark vor den Haien, mit denen er tatsächlich einmal eine unangenehme Begegnung hat, doch niemand informierte ihn darüber, dass er es – hat er einmal den Schatz gehoben – mit wahren Haien Menschengestalt zu tun bekommen wird, die ihn zerfetzen werden – nach allen Regeln der blutrünstigen Fress – und vereinnahmungsgier unserer wunderbaren Zivilisation.

„Der unschuldige Millionär>> (<<An Innocent Millionaire>>) heisst der zeitgenössische, und damit bitterböse, Abenteuerroman eines bislang hierzulande unbekannten Autors; Stephen Vizinczey (sprich Wiesinzei). 1933 in Ungarn geboren, wurde er mit 16 Jahren von Georg Lukács als Mitglied in das <<Institut für ästhetische Studien>> aufgenommen, schrieb Bühnenstükke, von denen drei unter dem kommunistischen Regime verboten wurden, und floh 1956, nach dem ungarischen Volksaufstand, in den Westen. Er liess sich zunächst in Kanada nieder, lernte Englisch bei der Arbeit an Filmskripts und veröffentlichte 1966 im Selbstverlag den Roman <<In Praise of Older Women>>, der zum Erfolg wurde – dem Autor aber auch einigen Ärger einbrachte: Sieben Jahre lang musste er vor New Yorker Gerichten mit einem amerikanischen Taschenbuchverleger um die Rechte an seinem ersten Roman prozessieren.

Diese neue Erfahrung im Westen war es wohl auch, die ihn zu seinem zweiten Roman inspirierte: <<An Innocent Millionaire>>, eine sozialpsychologische und ökonomische Tour de force durch die Gesetze der freien Marktwirtschaft. Ihre Handlanger, Funktionäre, Bonzen und Profiteure sind es, die Mark Niven kannibalistisch niedermachen. Jedenfalls geben Vizinczeys sarkastische Beschreibungen der New Yorker Anwälte und der Rechtsprechung des Autors eigene Erfahrungen auf diesem Gebiet wieder.

Vizinczey hat eine Art umgekehrten <<Graf von Monte Christo>> geschrieben. Sein Interesse gilt einmal jener << Wespentaille>>, die Dumas ausspart, und zum anderen den Folgen, wenn der Held, alles andere als ein allmächtiger Reicher, mit seinem Goldschatz in den Fleischwolf der Business-Mechanik gerät. Vizinczey hat mit seinem Mark Niven Edmond Dantes vom Kopf auf dei Beine gestellt. Er demonstriert, dass die entbehrungsreiche, zähe Arbeit eines Selfmade-Mannes von der (modernen) Gesellschaft alles andere als respektiert wird; Dantes’ grosse Rache erweist sich als Schall und Wahn, als Allmachtstraum des erlebnisarmen, frustrierten Bürgers.

Ein Michael Kohlhaas im Dschungel der Advokaten

Mark Niven wird mit der Realität dieses Traums konfrontiert. Noch ehe er seinen Schatz gehoben hat, schwimmen schon die Finanzhaie über ihm auf Beutesuche. Der Staat Bahamas erhebt überrissene Vermögenssteuer, Anwälte drängen ihre Hilfe auf, Wertsachenschätzer stellen unverschämte Honorare, die Bankiers wollen ihren Profit; der eigentliche Wolf im Schafspelz aber ist ein New Yorker Kunsthändler, der sich mit scheissfreundlicher Bonhomie das Vertrauen des sonst so misstrauischen jungen Mannes erschleicht, seine Schätze mit nach New York nimmt – und den Besitzer in Grund und Boden bescheisst.

Aus Mark Niven wird ein Michael Kohlhass, der um seinen Traum, seine langjährige Arbeit, seine persönliche, alleinige Leistung ringt, vor den Schranken amerikanischer Gerichte. Freilich erfolglos: Im Gesetzesdschungel haben die Winkeladvokaten das Sagen. Niven kehrt als gebrochener Mann auf die Bahamas zurück.

Die Passagen des Rechtskampfes sind der Höhepunkt dieses faszinierenden, bewegenden und blitzgescheiten Romans <<Es gibt so viele Arten>>, sagt einmal Marks Anwalt (der ihn schliesslich auch reinlegt), <<das Gesetz auszulegen, wie es Richter gibt. Das Gesetz ist das, was der Richter darin sieht – und dieser Richter kann jeder sein. Irgendeiner. Wenn Sie sich diese Stadt vorstellen, müssen Sie an Chicago während der Prohibition denken. Das war vor lhrer Zeit, es war sogar vor meiner Zeit, aber man kann darüber lesen. Wussten Sie, dass es an den obersten Gerichten in Illinois Richter gab, die gern bei Gangsterbeerdigungen als Sargträger auftraten? Heute würde natürlich kein Richter mehr den Sarg eines Richter tragen, weil Fernsehkameras dabei sind, und das Geld, mit dem sich Straffreiheit kaufen lässt, wird heute mit Drogen statt mit Alkohol verdient, aber sonst ist alles gleich.“

Im <<unschuldigen Millionär>> wird kein Ich inspiziert, kein Nabel beschaut. Keine kostbar-komplizierte Seele fordert unsere Anteilnahme; statt dessen geht es um Geld, Soll und Haben, am Ende um Zahlungsunfähigkeit. Erzählt wird nicht das Erzählen, das im deutschsprachigen Raum ach so fragwürdig ist, sondern die rasant und raffiniert aufgebaute Demontage eines jungen Mannes, der auf die Sirenenklänge des Liberalismus und die Erfolgsethik der kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft hereinfällt und ihren frommen Sprüchen auch noch glaubt.

Freilich, Vizinczey ist ein zu guter Erzähler, um über Profit und Konkurrenz das Emotionale zu vergessen. Mark Niven hat – wie Edmond Dantes seine Mercedes – eine grosse, nur halberfüllte Liebe: die Frau eines Chemie-Unternehmers, der skrupellos mit der Mafia fraternisiert, um gewissen Giftmüll bequem <<endzulagern>>. Der eitle pfau, dem zwar seine Ehefrau herzlich Wurscht ist, wird von Potenzängsten gepeinigt, als er von der heimlichen Liebschaft seiner Angetrauten mit dem romantischen Schatzsucher erfährt. Er will ihn liquidieren lassen, was ihm am Ende – nachdem Mark mit Hilfe seiner einflussreichen Liebe doch noch zu seinem Recht kommt – auch fabelhaft gelingt.

Melodramatischer Plot – gallige Betrachtung

Das Tückische an Vizinczey, der als ironisch-bitterer Erzähler immer wieder aus den Zeilen heraustritt und den Leser bei der Hand nimmt, um ihn durch die Sartresche Hölle unserer Zivilisation weiterzuführen, ist sein sanft-distanzierter, aberä realistischer Blick der Dinge: Es gibt, trotz melodramatischer Konstruktionen, keinen wirklichen Bösewicht, keine Schwarzweissmalerei.

Alle Figuren sind Gentlemen, von grosser Liebenswürdigkeit; sie wahren die Form, die Äusserlichkeiten, die kleinen Selbstverständlichkeiten des Know-how und des Savoir-vivre. Einige – der Vater, eine Freundin - meinen es sogar gut und schubsen ihn mit ihren Ratschlägen doch immer tiefer in die Bredouille. Ratschläge, Begegnungen, Zufälle – so Vizinczeys galliges Fazit – erzeugen nur verheerende Missverständnisse. So haben – schöne Beobachtungen – die Anwälte nicht nur wertvolle Teppiche und Gemälde in ihren Kanzleien, um Geschmack, Seriosität und Bildung zu signalisieren, sondern eben auch um einzuschüchtern; schliesslich wird nieman zum Klienten gezwungen. Wenn der Anwalt dann mit dem Rechtsvertreter der gegnerischen Partei eine fur beide (Anwälte) günstige Lösung ausmauschelt, haben sich die Klienten halt zu fügen – und zu zahlen.

Vizinczey präsentiert ganz beiläufig satirisch überhöhte Details; seine Sprache ist knapp, präzis und oft von einer zwingenden Imaginationskraft, die fast filmisch zu nennen ist. In seiner subversiven Eleganz ist Vizinczey durchaus vergleichbar milt Balzac. Ein altmodischer Erzähler?

Keine Spur: einer, der sich nicht scheut den Abenteuerroman sozialkritisch auszunüchtern, die alten Tugenden des grossen Erzählens wieder neu zu beleben. <<Ich glaube>> bekennt er, <<an die unsichtbare Handschrift. Wirklich gut schreibt man nur, wenn es die Leute nicht merken. Ich hasse die Schriftsteller, die einen Stil schreiben, denn das ist Selbstgefälligkeit.>>

Eine Aussage, die auch an alte Hollywood-Profis erinnert wie Howard Hawks, der einmal sagte, die Kamera habe in Augenhöhe zu sein; man dürfe sie nicht spüren. Der Roman schreit nach einer Solchen Verfilmung.

In der Geschichte gibt es eine. Marks Vater, der die Erfolgsleiter gelassener und geduldiger erklimmt als sein besessener und damit zum Scheitern verurteilter Sohn, erfüllt zum Schluss einen alten Traum Marks: Er verfilmt den <<Grafen von Monte Christo>>. Ein bitterböses Aperçu.


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